Bäume selbst vermehren
Veredeln
Um Obstbäume sortenecht zu vermehren, nutzt man in der Regel die Technik des Veredelns. Dabei passiert folgendes: Man verbindet zwei Pflanzenteile – die sogenannte Unterlage und das Edelreis – so, dass daraus eine einzige Pflanze entsteht. Die Unterlage liefert dabei die Wurzel und reguliert das Wuchsverhalten des späteren Baumes. Es gibt sehr schwachwüchsige Unterlagen, wie sie etwa in den modernen Apfelplantagen verwendet werden, aber auch sehr starkwüchsige Unterlagen. Letztere liefern die traditionellen hochstämmigen Bäume einer Streuobstwiese. Das Edelreis wiederrum ist ein meist einjähriger Trieb der Sorte, die vermehrt werden soll.
Eine gängige Technik ist die sogenannte Kopulation. Dafür schneidet man beide Teile mit einem scharfen Messer schräg an, sodass eine lange, ganz plane Schnittfläche entsteht. Im besten Fall passen die beiden Flächen genau aufeinander. Wenn das nicht geht, etwa, weil Unterlage und Edelreis zu unterschiedlich in der Dicke sind, reicht es auch, wenn zumindest auf einer Seite Kambium auf Kambium liegt. Als Kambium bezeichnet man die grüne Gewebeschicht direkt unterhalb der Rinde. Sie ist für das Dickenwachstum verantwortlich. Sobald die beiden Kambiumschichten von Unterlage und Edelreis aufeinanderliegen und luftdicht verbunden sind, wachsen die beiden Teile an der Stelle zu einem neuen Baum zusammen.
Eine Übersicht zu gängigen Unterlagen, Veredelungsmethoden und vielen weitere Informationen zum Thema finden Sie hier: http://www.veredeln.info/
Einige wenige Baumobstarten wie etwa Quitten lassen sich auch per Steckholz vermehren: Dazu steckt man im Winter einjährige Steckhölzer am besten an einer eher schattigen Stelle im Garten in die Erde. Die Hölzer bewurzeln dann und können nach ein bis zwei Jahren verpflanzt werden. Die Anwachsrate schwankt aber abhängig von der Sorte und anderen Faktoren, wie der Witterung. In beiden Fällen – beim Veredeln und bei Steckhölzern – spricht man von vegetativer Vermehrung. Nur so lassen sich Obstsorten sortenecht vermehren.
Bei der vielleicht intuitiveren Vermehrung durch Aussaat der Kerne – der generativen Vermehrung – ist dies nicht der Fall. Die meisten Obstblüten müssen immer von einer anderen Sorte bestäubt werden, damit sich vermehrungsfähige Kerne bilden. Dabei vermischen sich die Gene von „Mutter-“ und „Vatersorte“ in unterschiedlichen Kombinationen. Bei der Aussaat von Apfelkernen entstehen also aus genetischer Sicht immer neue Apfelsorten, die es in der Form zuvor noch nicht gab. Aus jedem Kern entwächst ein anderer Apfelbaum mit eigener Genetik. Die Früchte dieser neuen Bäume können zwar ähnlich, aber nie genau gleich sein wie der Apfel, aus dem die Kerne stammten.
Das bedeutet auch: Jede Apfelsorte, unabhängig davon, wie oft sie heute angebaut wird, entstand irgendwann irgendwo als Sämling. Hatte dieser Baum positive Eigenschaften und wurde er deshalb von den Menschen in seinem Umfeld für erhaltenswert befunden, dann schnitten sie Edelreiser – einjährige Äste – um ihn weiter zu vermehren. Die neu entstandenen Bäume lieferten ihrerseits Edelreiser und immer so weiter. Jeder einzelne Baum eines Golden Delicious – lange Zeit gehörte er zu den weltweit am meisten angebauten Sorten mit Abermillionen von Bäumen – ist eine Kopie einer Kopie einer Kopie des Ursprungbaumes. Je nach Sorte besteht diese Kette bereits seit Jahrhunderten! Somit ist es möglich, dass wir heute die gleichen Früchte essen, die schon vor 200 Jahren an den Tischen europäischer Fürsten verspeist wurden. Das ist wie eine kleine Zeitreise!
Heute werden Unterlagen zum Veredeln neuer Bäume in spezialisierten Baumschulen herangezogen. Dabei spielen Einheitlichkeit und Planbarkeit des Wuchses eine große Rolle. Das ist nachvollziehbar, denn die Bäume in Baumschulen müsse bestimmte Qualitätsmerkmale erfüllen, damit sie überhaupt verkauft werden können. Auf der anderen Seite geht damit aber auch eine genetische Verarmung unterhalb der Erde einher: Denn alle Bäume aus konventionellen Baumschulen, die heute auf einer Obstwiese gepflanzt werden, stehen auf den gleichen Unterlagen. Bei den Äpfeln handelt es sich bei den Unterlagen meistens um Sämlinge der Sorte „Bittenfelder“. Teilweise werden auch Sämlinge der Sorten „Antonovka“ und noch seltener „Grahams Jubiläumsapfel“ verwendet. Bei den Birnen war über Jahrzehnte die Sorte „Kirchensaller Mostbirne“ gesetzt.
Um es noch einmal zu verdeutlichen: Egal, welche Sortenvielfalt oberhalb der Grasnarbe eventuell vorhanden ist, im Boden selbst stehen alle Bäume auf Wurzeln mit der gleichen genetischen Herkunft. Wie jede Monokultur ist dieses System anfällig. Das zeigt das Beispiel Birnenverfall. Gegen diese bakterielle Krankheit ist die Kirchensaller Mostbirne – die Standardunterlage für Birnenhochstämme – nämlich hochanfällig. Befallene Bäume sind oftmals schon aus größerer Entfernung leicht zu erkennen: Bereits im Sommer haben sie rotes Laub, das dann frühzeitig abfällt. Es gibt aber auch andere Ursachen für ein frühzeitige Rotfärbung der Blätter. Eine wirklich sichere Diagnose auf Birnenverfall kann derzeit nur im Labor erfolgen. Was auf den ersten Blick schön aussieht, schwächt den Baum stark, weil er durch den verfrühten Laubfall deutlich weniger Reservestoffe einlagern kann. Die Früchte können unter diesen Bedingungen meist nicht ausreifen und die Bäume sterben häufig frühzeitig ab. Beim Apfel gibt es bislang noch keine vergleichbare Krankheit, aber das muss nicht so bleiben.
Sämlinge
Es hat also einen großen Vorteil, eigene Kerne auszusäen: Man erhält dadurch Unterlagen mit einer gewissen genetischen Vielfalt. Früher war das sogar die gängige Art, sich Unterlagen zu beschaffen. Der Trester – die Rückstände aus der Mostpresse – wurde ausgesät und die Sämlinge mit dem besten Wuchs ausgesucht, um neue Bäume zu veredeln. Teilweise entstanden so auch neue Sorten. Teilweise ließ man die Bäume zunächst Früchte tragen, ehe sie umveredelt wurden. Ein Zitat vom Würzburger Hofgärtner Johann Prokop Mayer verdeutlicht das. 1801 schrieb er im dritten Band seiner Pomona Franconia:
„Man ziehe in seinen Gaerten, von zahmen Kernen, Aepfel- und Birnbaeume, so viel als man kann, man pfropfe sie aber erst dann, wenn sie das erstemal getragen haben. Es ist der Klugheit gemaes, dem Zufall, durch den man viele neue Sorten erhalten kann, freien Lauf zu lassen.“
Darf ein Apfelsämling an Ort und Stelle wachsen, bildet er naturgemäß eine Pfahlwurzel aus. Beim Verpflanzen – wie es in der Baumschule unumgänglich ist – wird diese Pfahlwurzel zwangsläufig zerstört und der Baum bildet in der Folge ein flacheres Wurzelwerk. Möchte man die Pfahlwurzel und damit die potenziell bessere Resilienz gegen Trockenphasen erhalten, sollte man also direkt an dem Ort aussäen, wo der spätere Baum stehen soll. Dieses Verfahren nennt sich passenderweise auch Direktsaat.
Wie könnte das konkret aussehen? Eine einfache Möglichkeit ist es, wie schon unsere Vorfahren, den Trester aus der Saftpresse an Ort und Stelle auszusäen. Entfernen Sie dazu an den gewünschten Stellen die Grasnarbe und bringen Sie im Herbst den Trester auf einer Fläche von etwa 0,5 m x 0,5 m aus. Diese Saatbeete müssen unbedingt vor Verbiss durch Hasen, Rehe und falls vorhanden Weidetiere oder gar Rotwild geschützt werden. Am besten geht das mit drei bis vier Pfählen und einem Drahtgeflecht in der notwendigen Höhe. Dann heißt es erstmal abwarten. Im ersten Jahr werden viele Bäumchen keimen und teilweise aufgrund der Konkurrenz auch wieder eingehen. Das ist in Ordnung und Teil der Selektion. Je nach den Bedingungen vor Ort kann nach drei bis vier Jahren der Sämling mit dem besten Wuchs mit der gewünschten Sorte veredelt werden. Oder aber Sie machen es wie die Altvorderen und warten erst einmal, welche Früchte der Baum trägt. Vielleicht finden Sie ja auch eine neue Sorte, die sich zur Vermehrung lohnt.
Auch wenn es schwerfällt: die anderen Sämlinge sollten spätestens jetzt entfernt werden. Sie können zwar auch an andere Stellen verpflanzt werden, verlieren dabei aber unter Umständen ihre Pfahlwurzel. Außerdem sollte beim eventuellen Ausgraben das Wurzelwerk des veredelten Sämlings unbedingt unverletzt bleiben.

Alle anderen Obstarten können sie genauso aussäen. Walnüsse und Esskastanien etwa profitieren von einer intakten Pfahlwurzel: Gerade in den ersten Jahren wachsen sie meist deutlich schneller als verpflanzte Bäume aus der Baumschule. Eigene Erfahrungen mit Walnuss-Sämlingen zeigen, dass die Bäume oft schon nach wenigen Jahren über fünf Meter hoch sind. Nach sieben bis acht Jahren können sie bereits die ersten Nüsse tragen.
Alternativ ist auch eine Anzucht der Sämlinge in tiefen Töpfen oder im Garten möglich. Beim Verpflanzen sollte die Pfahlwurzel aber intakt bleiben. Länger als zwei Jahre sollten die Sämlinge also nicht im Beet oder im Topf stehen. Sämlinge in Töpfen sind anfälliger für Trockenheit. Dafür ist es einfacher, die Wurzel beim Umpflanzen nicht zu beschädigen.
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass kleinere Bäume besser anwachsen als große. Sie verlieren beim Umpflanzen deutlich weniger Wurzelmasse. Hier finden Sie den Artikel zu einem Versuch, bei dem zweijährige Unterlagen ausgepflanzt und später vor Ort veredelt wurden.
Wenn man es gewöhnt ist, einen „fertigen“ Baum zu pflanzen, wirkt dieses Vorgehen vielleicht erstmal ungewohnt. Aber es war über Jahrhunderte völlig normal, sich seine eigenen Bäume zu ziehen. Gerade im Hinblick auf den Klimawandel sollten wir uns dieses Potential vielleicht wieder mehr zunutze machen.
Bezugsquellen Edelreiser
Das Erhalternetzwerk Obstsortenvielfalt ist eine gute Quelle für seltene Sorten. Es handelt sich um ein dezentrales Netzwerk von Mitgliedern des Pomologen-Vereins, also um private Sammlungen. Alle verfügbaren Sorten wurden auf Sortenechtheit geprüft.
Die Deutsche Genbank Obst (DGO) ist ein dezentral organisiertes Netzwerk zum Erhalt alter Obstsorten. Bei den teilnehmenden Sammlungen ist ein Bezug von Edelreisern möglich.
Reiserschnittgarten Baden-Württemberg
Landwirtschaftliche Lehranstalten Triesdorf
Niedersächsischer Obstreisermuttergarten
- Es war über Jahrhunderte völlig normal, sich seine eigenen Bäume zu ziehen. Gerade im Hinblick auf den Klimawandel sollten wir uns dieses Potential vielleicht wieder mehr zunutze machen.